Wissenssystematisierung Projekt Grenzgaenger*innen 23.07.2018

Wissenssystematisierung

Seit 2015 hat sich die demographische Situation in vielen ostdeutschen ländlichen Gebieten, kleinen und mittelgroßen Städten signifikant verändert. Viele dieser Regionen sind bis dahin nur marginal mit dem Phänomen Migration in Berührung gekommen. Die zentral organisierte Verteilung von Geflüchteten auf die bundesdeutschen Kommunen und Städte hat bewirkt, dass nun viele Gemeinden, Kreise und Städte einen höheren Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zu verzeichnen haben als noch vor dem Jahr 2015. Die Menschen in den mitteldeutschen Gebieten sind nach wie vor durch Abwanderung, Arbeitslosigkeit und Armut in ideeller sowie materieller Ausprägung betroffen. Die Verbreitung von polarisierenden und Angst schürenden Berichten, Meldungen und Beiträgen in neuen und alten Medien ist einer von vielen Gründen, warum rechts-konservative politische Bewegungen und Gruppen Zuspruch finden, die Migration bipolar und eindimensional als Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Dass Migration viele Potentiale, Ausprägungen und Gesichter hat, ist vielen Menschen nicht bewusst. Nicht selten werden zum Beispiel fälschlicherweise alle Menschen mit Migrationserfahrungen als Gruppe der Geflüchteten zusammengefasst oder Migration als Prozess verstanden, der nur eine Richtung oder ein Ziel hat, nämlich nach Europa zu kommen. Dies entspricht jedoch keinesfalls der Realität bzw. trägt der Individualität von Migration/Flucht keine Rechnung.

Seit 2015 wirkt das entwicklungspolitische Bildungsprojekt „Grenzgänger*innen“ des Vereins WeltOffen e.V. in verschiedenen Schultypen, hauptsächlich jedoch an Berufsschulen. Wir haben mehr als 30 Projekttage umgesetzt und mit ca. 500 Personen Bildungseinheiten durchgeführt. Gefördert wurden die Projekte durch entwicklungspolitische Förderer aus dem staatlichen (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) und dem nicht-staatlichen (Katholischer Fonds, Stiftung Nord-Süd-Brücken) Bereich.

Entwicklungspolitische Bildungsarbeit oder auch das Globale Lernen (1) konzentrieren sich auf die Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Weltregionen, in denen einerseits wirtschaftlich eher starke (globaler Norden) und andererseits wirtschaftlich eher schwache Länder (globaler Süden) zu verorten sind. Dabei wird eine weitreichende Perspektive eingenommen, in der historische, soziale und politische Dimensionen ebenso eine Bedeutung haben wie auch die bereits angesprochene ökonomische Ebene. Globalisierung bedeutet eben nicht nur eine Zunahme von weltweiten (wirtschaftlichen) Verflechtungen und Kontakten, sondern auch eine Steigerung von Komplexität, die jeden Menschen vor die Aufgabe stellt, sich in dieser Welt zu verorten, seine Rolle zu finden und seine Verantwortung zu erkennen. Keineswegs sollten die globalisierenden Prozesse als etwas schlechtes oder verwerfliches angesehen werden, sondern eher als Chance und Herausforderung sowie als Möglichkeit, neue gemeinsame normative Orientierungspunkte zu setzen und ein neues Verständnis eines Miteinanders auszubilden. So wird beispielsweise Migration in der Entwicklungspolitik auch häufig in einem umfassenden Sinn im Hinblick auf die damit einhergehenden wirtschaftlichen, interkulturellen und gesellschaftlichen Dynamiken wahrgenommen und hier durchaus als Möglichkeit verstanden, positive Impulse und Entwicklungen anzustoßen. (2)

Mit unserem Projekt „Grenzgänger*innen“ sprechen wir seit 2015 die Zielgruppe der Berufsschüler*innen an, die bisher in Mitteldeutschland von Angeboten des Globalen Lernens und der BNE nur wenig erreicht wurde. Wir haben Kontakte zu Berufsschulen in Mitteldeutschland (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen). Da die Berufsfelder und Ausbildungsrichtungen sehr divers sind, haben wir uns auf die Gruppe der sozialen Berufe konzentriert. Dies hat zum Vorteil, dass die angehenden Professionellen in ihrer Arbeit mit der Klientel Menschen mit Migrationserfahrung in ihren Praktika bereits zusammengearbeitet haben und somit einen berufspraktischen und alltagsrelevanten Bezug zum Thema herstellen können. Dies bringt aber auch verschiedene Herausforderungen mit sich, die im Folgenden thematisiert werden. Daneben werden wir in der Zukunft auch andere Berufsgruppen, so zum Beispiel aus dem kaufmännischen und gewerblichen Bereich ansprechen. Dazu im Kapitel „Ausblick“ mehr.

 

Erwartungen und Perspektiven

Da entwicklungspolitische Bildungsarbeit nach wie vor Neuland an Bildungseinrichtungen und insbesondere Berufsschulen in ostdeutschen ländlichen Regionen ist, muss mitunter Pionierarbeit hinsichtlich der Charakterisierung und Beschreibung des Arbeitsfeldes Globales Lernen und BNE geleistet werden. Neben den zentralen Inhalten und Bezügen zum Lehrplan (1) müssen auch Differenzierungen zu den Themenfeldern Integrations- und Asylpolitik vorgenommen werden. Häufig werden diese Arbeitsfelder aus Sicht der Kooperationspartner*innen (Schulen) zusammengedacht. Dies führt mitunter zu Zielkonflikten, da an das Projekt der Anspruch gestellt wird, umfassende Lösungs- und Handlungsansätze in den Bereichen „Integration“ bzw. „Asylverfahren“ zu erarbeiten. Die Referent*innen geben hierzu Einblicke und verweisen auf einschlägige Quellen, in denen entsprechende Informationen eingeholt werden können. Unsere Projekte bieten viele Verweise und Berührungspunkte zu anti-rassistischen, interkukturellen, anti-bias, diversity und anderen Trainings, sind aber auf globale Beziehungen fokussiert.

Das Interesse seitens der Schulen und des Lehrkörpers ist nach wie vor ungebrochen. Die Lehrer*innen geben sowohl in den Vorgesprächen als auch in den Pausengesprächen zu verstehen, dass ihnen sehr daran gelegen sei, eine externe Meinung zu dem Thema zu hören, spezifisches Expert*innenwissen in Erfahrung zu bringen, aber eben auch Argumentationen und Handlungsoptionen zu diskutieren. Die Schulen, aber auch die Lehrkräfte haben das Thema aufgeschlossen aufgenommen und die Durchführung vollends unterstützt.

Die Schulen nehmen unser Angebot hauptsächlich für die Gruppe der Sozialassistent*innen und Erzieher*innen dankend wahr. In den letzten beiden Jahren haben wir intensive Akquisetätigkeiten in Sachsen-Anhalt und Thüringen durchgeführt. Viele der Schulen zeigen Interesse, es war ihnen jedoch aus verschiedenen Gründen nicht möglich, die Eigenbeteiligung zu erbringen. Dies bedauern wir, da die Eigenbeteiligung unter den marktüblichen Preisen für externe Lehrkräfte liegt. Wir haben Kontakte zu Schulen aufgebaut, die wir auch in den nächsten Jahren weiter bedienen werden. Unsere Angebote stehen aber grundsätzlich für jede*n zur Verfügung.

Im Projekt arbeiten die beiden Projektleiter*innen sowie ca. zehn Referent*innen, die über Migrationserfahrungen verfügen. Da die Projektleiter*innen nur eine begrenzte Anzahl von Projekttagen selbst durchführen, liegt ein besonderer Schwerpunkt des Projekts auf der Kommunikation zwischen den Schulen, der Leitung und den Referent*innen. Das stellt einerseits vor die Herausforderung, die Erwartungen, Erfahrungen und Vorstellungen der Schulen und Schüler*innen an den Projekttag zu erfassen und diese den Referent*innen im Vorfeld mitzuteilen. Andererseits bedingt die Zusammenarbeit mit den Referent*innen, die immer zu zweit die Projekttage teamen, die Moderation der heterogenen Arbeits- und Lebenserfahrungen und der daraus erwachsenen Perspektiven sowie die besondere Herausforderung der Sicherstellung der Qualität der Bildungsarbeit. Die Zusammenarbeit zwischen den Referent*innen und der Leitung wird als wechselseitiger Lernprozess verstanden. So erarbeitet die Leitung Methoden, Materialien und bereitet Hintergrundinformationen auf, die für die Durchführung der Projekttage relevant sind. Die Referent*innen wiederum geben in den Evaluationstreffen, an denen alle Referent*innen teilnehmen, der Gruppe Feedback zu ihren Erfahrungen in den Bildungsveranstaltungen und bringen ggf. eigenes Wissen zu Quellen und Methoden in den kollektiven Wissenspool ein. Die Referent*innen fassen ihre Erfahrungen und Eindrücke in einem Evaluationsbogen zusammen und haben daneben die Möglichkeit, jederzeit die Projektleitung um Unterstützung, Beratung und Reflexion zu bitten. Diese Maßnahmen sichern die Qualität der Lehre und tragen zur Weiterentwicklung der Angebote bei.

Auch den Lehrer*innen und Teilnehmer*innen (TN) wird die Möglichkeit gegeben, in Evaluationen Kritik und Anmerkungen zu äußern. Darüber können Rückschlüsse auf die Erwartungen und ihre Perspektive gezogen werden. Sie erhoffen sich vor allem, dass sie mit Faktenwissen versorgt werden. Außerdem wünschen sie sich eine rege Diskussion und einen Austausch in der Gruppe. Diesen Erwartungen können wir weitestgehend gerecht werden. Viele der Anregungen haben wir aufgenommen und werden sie in den folgenden Projektzyklen umsetzen. Eine Lehrkraft gibt in der Evaluation an: „[…] abwechslungsreiches Vorgehen, unterstützt durch anregende Medien, dienten der Veranschaulichung und Aktivierung sowie offenen Gesprächsführung […]“. Ein*e TN schrieb: „Ein abwechslungsreiches Seminar mit Spaß und offener Kommunikation.“.

Es zeigt sich bei den TN eine reservierte und teilweise resignierte Haltung gegenüber dem Thema, die u.a. durch Medien bzw. Berichterstattungen aufgeladen, aber auch durch die intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung zum Thema „Flucht“ nach 2015 bedingt ist. Dennoch vermerkten viele TN in den Evaluationen, dass sie neue Aspekte in Erfahrung bzw. neues Wissen zum Thema erworben haben.

Insbesondere Personen, die ausbildungsbegleitend bereits mit der Zielgruppe Migrant*innen zusammenarbeiten und/oder erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten gesammelt haben, melden starkes Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. an den damit verbundenen berufspraktischen Aufgaben. Die TN äußern zudem ein Bedürfnis an standardisierten Methoden und Verfahren, um mit der spezifischen Zielgruppe „Migrant*in“ pädagogisch arbeiten zu können. So werden häufig kulturspezifische Arbeitsformate („Wie ist das eigentlich bei der Gruppe der xyz?“) abgefragt, die unsererseits abgelehnt werden, da wir kulturalisierende Wahrnehmungsweisen nicht gutheißen, da jeder Mensch individuell ist. Vielmehr sind auf individuelle Faktoren und situative Rahmenbedingungen Rücksicht zu nehmen. Ein weiterer Wunsch wird häufig in Hinsicht auf die Frage nach dem Umgang mit traumatisierten Menschen geäußert. Traumatherapeutische Techniken und Methoden sind kein Bestandteil unserer Workshops. Wir verweisen darauf, geeignete professionelle Hilfe und Beratung zu Rate zu ziehen. Zur Arbeit im traumapädagogischen Kontext geben wir Anregungen.

Trotz dieser Vermittlung von praktischem Rüstzeug sehen wir unser oberstes Ziel in der Vermittlung von Perspektiven, die dazu beitragen, dass die Diskussionen nicht einseitig, sondern ganzheitlich die Lebensumstände von Menschen mit Migrationshintergrund und denen, die mit ihnen zusammenleben und mit ihnen arbeiten, thematisieren. Integration und gesellschaftliche Teilhabe sind keine Zustände, sondern Prozesse, die das Mitwirken aller Gesellschaftsmitglieder verlangen.

Auf Seiten der TN gibt es wie bei allen Bildungsinhalten Menschen, die dem Thema aufgeschlossen gegenüber stehen und andere, die es als etwas eher Unbedeutendes erachten. Interessanterweise ändern sich die häufig anfänglich verschlossene und reservierte Haltung bzw. teilweise schon verdrießliche Haltung („ah schon wieder das Thema…“) dank unserer interaktiven Methoden, die viel Raum für inhaltliche und fachliche Auseinandersetzung bieten, hin zu einer diskussionsfreudigen Stimmung. TN geben an, dass ihnen neue Aspekte und vor allem die Lebensrealität von Migrant*innen und Geflüchteten deutlicher geworden ist. So zeigt sich ein starkes Interesse an Diskussion und Auseinandersetzung in den Gruppen. Diese Diskussionen werden durch die Referent*innen politisch neutral moderiert. Dem Willen zu asyl- und integrationspolitischen Debatten und Integrationsfragen muss dann aber auch manchmal Einhalt geboten werden, da darauf fokussierte Diskussionen die eigentliche Perspektive des Nord-Süd-Bezuges unseres Projekts überlagern. Ein*e hob positiv in einem Evaluationsbogen hervor: „Das wir mit einbezogen wurden und nicht nur zuhören mussten.“.

Besonders positiv wird von den TN rückgemeldet, dass im Workshop unterschiedliche Methoden und Medien eingesetzt werden. Insbesondere werden die Gruppenarbeitsprozesse positiv kritisiert, in denen sich die TN über ihre eigenen Erfahrungen austauschen können und am Rande auch mit den Referent*innen ins Gespräch kommen. Positiv beurteilt werden auch die unterschiedlichen Materialien und Bücher, die vorgestellt und ausgelegt werden und teilweise auch mitgenommen werden können. Ein*e TN schrieb hierzu in der Evaluation: „[besonders gut gefallen hat mir] die praktische Umsetzung, was man auch wirklich später im Beruf anwenden kann.“.

Die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Erwartungen und Perspektiven innerhalb der Gruppe der TN, aber auch mit den Referent*innen, der Projektleitung und dem Lehrkörper führt letztendlich auch dazu, dass sich alle Beteiligten intensiv mit den Ansichten, Meinungen und Einstellungen der anderen auseinandersetzen und darüber neue gemeinsame Perspektiven generiert werden. Das Projekt führt so auch unter den Kooperationspartner*innen zur kollektiven Auseinandersetzung und Bearbeitung des vielfältigen Themas.

 

Fazit und Ausblick

Viele Lehrpläne sehen entwicklungspolitische Bezüge (Themen: Globalisierung, Interkulturalität, Weltreligionen) bzw. thematisieren globale politische und gesellschaftliche Zusammenhänge im Rahmen des Unterrichts. Dennoch sind spezielle Bildungsangebote im Bereich Globales Lernen und BNE (entwicklungspolitische Bildungsarbeit) sowie die Zusammenarbeit mit externen Referent*innen eher selten.

Der „Nationale Aktionsplan Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ sieht die stärkere Verankerung von BNE-Themen in den Lehrplänen der Berufsschulen vor. (3) Ideen und Ansätze, die damit verbundenen Themen in die Berufsschulen zu bringen, sind bisher nur rudimentär ausgebildet. Daneben ist bis dato noch völlig unklar, wer diese Themen pädagogisch aufbereiten und vermitteln soll. Eine Zusammenarbeit mit externen Bildungsakteur*innen scheint deshalb zwingend erforderlich.

Das Projekt Grenzgänger*innen wird sich im Projektzyklus Mai 2018 bis Oktober 2019 (4( stärker als bisher auf Nachhaltigkeitsthemen konzentrieren und dabei die Themen Flucht und Migration in einen systemischen Zusammenhang mit ökologischen, sozio-politischen, ökonomischen und kulturellen Prozessen weltweit stellen. Darüber hinaus werden wir unser Portfolio erweitern, um so auf die individuellen Wünsche und Erwartungen der unterschiedlichen Berufsgruppen eingehen zu können. Außerdem werden wir unseren Referent*innenpool weiter beratend und unterstützend zur Seite stehen und uns um die Akquise neuer Referent*innen bemühen.

 

1 siehe: https://www.engagement-global.de/lernbereich-globale-entwicklung.html?file=files/2_Mediathek/Mediathek_EG/Angebote_A_Z/Lernbereich_Globale_Entwicklung/Baden-Wuerrtemberg/EG_Globale_Entwicklung_Orientierungsrahmen.pdf

2 siehe hierzu zum Beispiel: https://www.die-gdi.de/migration-und-nachhaltige-entwicklung/

3 https://www.bmbf.de/files/Nationaler_Aktionsplan_Bildung_f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung.pdf

4 finanziert durch die Stiftung Nord-Süd-Brücken, den Katholischen Fonds, die Landesdirektion Sachsen und Engagement Global

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